Katalogbücher: Odyssee

 DER MYTHOS LEBT ( on the road, in the street, on the water, in the air … )

Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit: zehn Jahre dauerte die Belagerung Trojas bis zu seiner Zerstörung, weitere zehn Jahre die Heimkehr nach Ithaka, die sich durch die brutalen Machenschaften des Meeresgottes Poseidon immer weiter verzögerte.

Odysseus, König von Ithaka, verheiratet mit Penelope, Vater des Telemachos, galt als tapfer und klug, aber auch als listig und verschlagen.

Trotz seiner Gefangenschaft bei Kalypso auf der Insel Ogygia, die bei der intensiven Fürsorge der Nymphe so schlimm nicht gewesen sein kann, erscheint es mir unwahrscheinlich, dass Odysseus den östlichen Mittelmeerraum in dieser langen Zeit nicht verlassen haben soll. Auch sein Aufenthalt bei der Zauberin Kirke dürfte eher angenehm verlaufen sein. Der Mythos beschreibt beide Damen als attraktiv und letztlich hilfsbereit. Ähnliches gilt für Penelope. Sie kann unmöglich jahrelang am Webstuhl gesessen, die „Freier“ hingehalten und gewartet haben. Sie hat sicher Mittel und Wege gefunden, ihr Leben abwechslungsreicher zu gestalten. Der Dichter und Sänger Georges Brassens äußert in seinem gleichnamigen Chanson dieselben Zweifel.

Der Leser kann sich also gut vorstellen, dass Homer andere Orte, Zusammenhänge und Episoden verschweigt (oder gar nicht kennt), und es ist ganz im Sinne eines jeden Mythos, dass für ihn, den Leser / Hörer, in seiner eigenen Vorstellungswelt neue, individuell geprägte Bilder sichtbar werden, die durch die alten in Gang gesetzt worden sind.

Förderliche Faktoren in diesem Prozess sind die andauernden Verwandlungen, denen die handelnden Personen ausgesetzt sind: Athene erscheint gelegentlich als der Odysseus-Freund Mentor, manchmal aber auch als Telemachos, Odysseus selbst wird in einen clochardartigen Bettler verwandelt, Menschen in Schweine … .

Die im Mythos angelegten Verwandlungen motivieren geradezu die Entdeckung neuer Personenkonstellationen und neuer Ortsbezüge, die Schriftsteller und bildende Künstler immer wieder zu neuen Motivvariationen verleitet haben. So lässt James Joyce z.B. seinen Ulysses in der Gestalt des Leopold Bloom bis in das Dublin des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts vordringen … . In anderen Bearbeitungen, etwa bei Giono und Aragon bleiben die Ortsangaben eher vage und verschwommen, aber jedenfalls nicht auf den östlichen Mittelmeerraum beschränkt.


Meine Vision der Odyssee konzentriert sich eher auf Reisen im westlichen Mittelmeer mit ausgedehnten Exkursionen ins  Landesinnere. Ich habe bei der Arbeit festgestellt, dass der Mythos eigentlich überall auffindbar ist. Wenn man ihn einmal in sich aufgenommen hat, entdeckt man sich plötzlich selbst in der Rolle des Odysseus, in ähnlichen Lebensbezügen und Zusammenhängen wie das antike Original (Pläne werden zerstört, Wege unpassierbar gemacht, Schwierigkeiten mehr oder minder gemeistert …, Begegnungen mit Menschen und Situationen fördern oder hemmen das Weiterkommen, wohin und mit welchem Ziel auch immer…).

An allen Orten ist Odysseus über das jeweilige Tagesgeschehen informiert, denn er ist ein begeisterter Zeitungsleser, er löst für seine Reisen Bahn– und Busfahrkarten, Flugtickets und Schiffspassagen, kehrt unterwegs ein, versorgt sich mit Kleidung (mit Jeans…) und beobachtet von den Terrassen der am Weg liegenden Cafés und Bars aus die Menschen und das, was sie treiben – oft mit einem Glas Weißwein in der Hand.

Dabei werden die antiken Gestalten zu uns bekannten Personen: Johnny Cash, Kate Moss, Lady Gaga, Gerard Depardieu, ZAZ, Nan Goldin, Andy Warhol, Joseph Beuys, Amy Winehouse, Hermann Göring… treten auf und formulieren in allen 24 Gesängen eine neue Form des Mythos.

Das verwendete Material für die einzelnen „Illustrations?“–Arbeiten ist immer authentisch, d.h. meist am Tage der Herstellung gefunden und weiterverarbeitet.

Es hat nie eine umfassende Materialsammlung im Sinne eines Bilderdepots gegeben.

So gesehen ist jede einzelne Arbeit nicht nur eine individuell aktualisierte Verbildlichung des Mythos, sondern auch die Seite eines Tagebuchs.


Odyssee: 24 Gesänge/Chants von Günter Vossieck und Holger Schnapp, ISBN-13: 978-3848252992,  448 Seiten, gebundene Ausgabe 74,90€