Ithaka Blues

ab 2010

Ithaka-Blues  (Homerische Horizonte)

Die Arbeitsserie „Ithaka-Blues“ geht auf eine langjährige Beschäftigung mit dem Erzählstoff von Homers „Odyssee“ zurück. Die Auseinandersetzung mit diesem Stoff fand (und findet noch) auf zwei unterschiedlichen Ebenen statt: einerseits entstanden bislang ca. 180 Collagen und Collageübermalungen im A4-Format mit aktuellem Bildmaterial als Illustration zu diesem Text, der sich in seiner mythischen Anbindung zwangsläufig als zeitlos darstellt. Das von Homer Erzählte ist daher in aktualisierter Weise auch in der Gegenwart vorstellbar; erste Ergebnisse dieser Arbeitsebene sind in dem 2013 erschienenen Katalogbuch „Odyssee (…just so stories…)“ zusammengefasst.

Andererseits sind in einer langen Reihe von malerischen Arbeiten (bisher ca. 40) Abstraktionen entstanden, immer motiviert durch die homerische Vorlage.

Beide Arbeitsweisen dynamisieren sich gegenseitig, sie evozieren immer wieder neue Motivzusammenhänge.

In den Collagen dominieren die handelnden Menschen, in den Gemälden die See- und Uferlandschaften.

Die in 24 Gesänge unterteilte Geschichte handelt von der Rückkehr ihres Helden Odysseus aus dem Trojanischen Krieg, die runde zehn Jahre lang gedauert haben soll und durch die brutalen Machenschaften des Meeresgottes Poseidon immer wieder erschwert und verzögert wurde, denn Poseidon ließ nichts unversucht, sich für die Blendung seines Sohnes Polyphem an Odysseus zu rächen.

Wenn der Kampf um Troja schon zehn Jahre in Anspruch genommen hatte und die Heimreise ebenso lange, so kann man leicht nachvollziehen, dass sich in dem Helden Gefühle des Heimwehs und der Sehnsucht entwickelten.

Ziel der Reise, die sich schließlich zu einer Irrfahrt durch das vermutlich gesamte Mittelmeer ausweitete, war die Insel Ithaka an der griechischen Westküste, auf der Odysseus bis zu seinem Aufbruch nach Troja als König geherrscht hatte – und Ziel war vor allem seine Frau Penelope, die die Hoffnung auf die Rückkehr ihres Mannes nicht aufgegeben hatte.


Von den vagen, geografisch kaum identifizierbaren Reisestationen, Begegnungen, Widrigkeiten und Abenteuern handelt Homers Text.

Heimweh und Sehnsucht kennzeichnen die Grundstimmung, „Ithaka-Blues“ ist daher ein angemessener Arbeitstitel für die Bilderserie.

Dem Blues und dem Meer entsprechend ist die Farbe Blau der Grundton der meisten malerischen Arbeiten.

Die Linienführung und die auf den ersten Blick oft unbestimmte Art des Bildaufbaus legen den Betrachter nicht sofort fest, sie lenken ihn nicht in eine bestimmte gegenstandsbezogene Richtung; sie lassen vielmehr Raum für Assoziationen, eigene Entdeckungen, Sichtweisen und Interpretationen.

Meist entwickelt sich eine Bildidee aus dem Prozess des Malens selbst; oft durchlebt ein und dasselbe Bild auch mehrere unterschiedliche Bildideen, bevor es „fertig“ ist.

Die in Grau- und Ockertönen gehaltenen Arbeiten beziehen sich dagegen auf Felsformationen, Mauern, Gebäude, Tür- oder Toröffnungen….

In diesem Sinne sind alle Bilder aus der „Ithaka-Blues“–Serie abstrahierte Inszenierungen von Marine-, Landschafts- und Architekturmalerei.

Im 13. Gesang beschreibt Homer, wie Odysseus im Halbschlaf auf einem Boot seine Heimatinsel Ithaka erreicht, sie aber nicht erkennt. Pallas Athene, die Tochter des Zeus, hatte einen Nebel über die Insel ausgegossen, der sich später lichtet und zu neuen Erkenntnissen und Sichtweisen führt (…eine beliebte und wirksame Taktik der antiken Götter…).

So oder ähnlich ist die Situation auf den Bildern im „Ithaka-Blues“: es geht um Räume und Orte der Unbestimmtheit, der Entfaltung und der Verwandlung.

Holger Schnapp