Ein spanisches Sprichwort sagt:
Se hace camino al andar.
(Der Weg entsteht im Gehen.)
Es gibt für uns Orte des Fortgehens und Orte des Ankommens, und das, was dazwischen ist, beschreibt das Sprichwort – davon handeln die Bilder.
Zielloses Umherstreifen kann der Geburtshelfer von Gedanken sein, und neue Orte provozieren neue Erkenntnisse. „Gehen hilft beim Denken“, hat mal jemand gesagt. Wenn man Glück und einen aufmerksamen und sensibilisierten Blick hat, gelingt es gelegentlich auch, die Poesie solcher Orte in Fotografien, Collagen und Fotoübermalungen zu inszenieren.
Die handelsüblichen Reiseführer fangen diese Art von Poesie nur selten oder gar nicht ein; in ihnen werden „Highlights“ vorgeführt. Ständig wird dem Leser suggeriert, was er gesehen haben muss.
Alle diese Leser haben dann natürlich identische, uniforme „Sicht“–Weisen auf die jeweiligen Orte.
Aber kaum jemand hat dann den Ort und seinen Zauber wirklich begriffen oder auch nur begreifen können, diesen Zauber verwalten eben die Dichter, die Literaten , Maler, Fotografen und die Multimedia–Künstler.
Barcelona bietet sich für mich seit vielen Jahren als Ort zum Umherstreifen und Flanieren geradezu an; die Stadt scheint sich ständig selbst zu erneuern, ohne dabei ihre Geschichte zu verlieren, im Gegenteil, die Geschichte ist ständig präsent.
Der Maler Antoni Tàpies notiert dazu: „Ich fand die Quelle meiner Inspiration im intensiven Erleben meiner katalanischen Heimat…, in den grauen Mauern, hinter denen melancholische Gärten verborgen liegen…, im Gotischen Viertel, in dessen grauen und schwärzlichen, ganz vernarbten Mauern die ganze Geschichte des Landes geschrieben steht…, an den Ausgängen der Fabriken und Werkhallen.“
Gleichzeitig outet sich Barcelona zunehmend als Zentrum für avantgardistisches Design und die damit verbundenen und angesagten Lebensformen – dies alles vollzieht sich zwischen Baustellen und Schmuddelecken. Hier findet man Gestaltungswillen und Vernachlässigung, Traditionsbewusstsein und Aufbruchsstimmung in ein und derselben Stadt – und das macht sie zu einem wirklichen „Ort“ und einem vielfältigen Feld von Beobachtungen und Erfahrungen.
Wichtige Orte im „Ort“ sind die vielen Bars mit den langen Tresen, den dampfenden Kaffeemaschinen, neben denen die TV–Geräte permanent eingeschaltet sind.
Solche Orte geben mehr Auskunft über die „Seele“ Barcelonas als alle Kunstdenkmäler zusammen. Hier sieht, hört und erfährt man, was die Leute bewegt und was sie denken, in den vielen überdachten oder nicht überdachten Märkten ist das ähnlich.
Die Öl- oder Acrylfarbe in meinen Arbeiten will nicht irgendwelche Gegenstandsbezüge verdeutlichen: sie akzentuiert, lenkt den Blick auf etwas oder verwischt Bildelemente, die nicht von Bedeutung sind.
Es geht immer um die „Seele“, die aufgedeckt werden soll. Es soll in meinen Arbeiten gezeigt werden, wie die Stadt lebt und wie andere in ihr leben können.
Manchmal ist die Seele in den versteckten Winkeln und den Hinterhöfen der Stadt verborgen: an Hauswänden, Gehwegen, Plakatwänden… wird sie von Malern, Poeten , Tänzern und Musikern entdeckt. Für die Stadt als „Ort“ ist das gut.
Sehen wir also etwas, was unserem Blick bisher entgangen ist!
Holger Schnapp
P.S.: „Unter all den Orten, an die wir reisen und die wir doch nicht richtig ansehen oder die uns kalt lassen, ragen ab und zu einige wenige heraus, so überwältigend, dass wir doch Acht geben. Sie besitzen eine Eigenschaft, die man, grob gesagt, Schönheit nennen könnte. Das muss nicht heißen, dass sie hübsch sind oder eines der gängigen Merkmale aufweisen, die Reiseführer mit Sehenswürdigkeiten verbinden.“
(Alain de Botton)